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Titel
Gelehrte Kritik. Albrecht von Hallers literarisch-wissenschaftliche Rezensionen in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen


Autor(en)
Profos Frick, Claudia
Reihe
Studia Halleriana 10
Erschienen
Basel 2009: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
450 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Habel, Göttingen

Bei seinem Tod im Jahre 1777 hinterliess Albrecht von Haller ein gewaltiges kritisches OEuvre, das mehr als 9000 Rezensionen aus vier Jahrzehnten umfasste. Die zumeist deutsch-, aber auch französisch- und lateinischsprachigen Rezensionen, die in unterschiedlichen Zeitschriften, vornehmlich aber den Göttingischen Zeitungen / Anzeigen von gelehrten Sachen (GGA) publiziert wurden, referierten und bewerteten neue Schriften aus fast allen Bereichen der Wissenschaften und der schönen Literatur. Kritik war bei Haller nicht etwa nur das Produkt «müssiger Nebenstunden», sondern ein zentraler Bestandteil seiner Arbeit als Gelehrter. Seine unermüdliche Kritiker-Tätigkeit sicherte ihm denn auch schon zu Lebzeiten eine herausragende Stellung innerhalb der Respublica Litteraria. Einer seiner Göttinger Kollegen, der renommierte Professor der Medizin und Naturgeschichte Johann Friedrich Blumenbach, beschrieb Haller als hervorragenden Rezensenten, dessen «unermeßliche Gelehrsamkeit verbunden mit einer fast beyspiellosen Stärke des Gedächtnisses» ihn befähigt habe, «das eigenthümliche Neue [und Wesentliche]» einer Schrift zu erkennen und in der ihm «eigenen gedrungenen und doch so reichhaltigen Kürze» zusammenzufassen. Und er fuhr fort: «Vielleicht ist es nicht zu viel gesagt, wenn man Hallers Recensenten-Arbeiten zu seinen wichtigsten und größten Verdiensten zählt, die ihm doch, so sehr auch seine Urtheile bleibendes Muster von Billigkeit und Würde sind –, wie er selbst klagt, am wenigsten verdankt, vielmehr mit vielen Unannehmlichkeiten vergolten worden.»1

Mit Hallers Rezensionen (insbesondere zur schönen Literatur) hat sich seit den 1960er-Jahren Karl S. Guthke vielfach auseinandersetzt. Claudia Profos Frick – Mitarbeiterin an der Bibliographia Halleriana (Basel 2004) – greift auf Guthkes Ergebnisse zurück, beschreitet in ihrer hier vorliegenden Studie aber inhaltlich und methodisch andere Wege. Auf mehr als 400 Seiten entwirft sie ein informatives und detailreiches Bild von Hallers Verständnis der gelehrten Kritik sowie den spezifischen Gegebenheiten seiner Rezensionstexte. Im einleitenden Kap. 1 werden zunächst das zu analysierende Textkorpus, Hallers literarisch-wissenschaftliche GGA-Rezensionen, sowie die gewählte Methode, eine computergestützte linguistisch-stilistische Analyse, vorgestellt; sodann wird Hallers «kritischer Kontext» skizziert: einerseits das Rezensionsinstitut der GGA, andererseits Grundzüge der zeitgenössischen Kritik am Beispiel Gottscheds und Lessings. Kap. 2 widmet sich Hallers Rezensionsgrundsätzen, die in verschiedenen seiner Vorreden deutlich fixiert sind: Kritik hat auf Verbreitung und Verbesserung der besprochenen Schriften abzuzielen und somit dem allgemeinen Nutzen zu dienen. Voraussetzung für den Kritiker sind Sach-Kompetenz, Objektivität, Orientierung nur am Gegenstand, Freimütigkeit im Urteil, Mäßigung im Ton. Kap. 3 postuliert Hallers anonym erschienene GGA-Rezensionen als authentisches Haller-Textkorpus, das ideale Voraussetzungen für eine sprachzentrierte Analyse bietet. Die «Brücken»-Kap. 4 und 5 bieten notwendige Sach-Informationen zu Haller: zur Ermittlung seiner anonymen Rezensionen, zu Entwicklung und Erscheinungsbild seiner literarischen Kritik und schliesslich zum Publikum, den gelehrten Lesern wie den besprochenen Autoren. Kap. 6 führt zurück zur eigentlichen (auf literaturkritische Rezensionen beschränkten) Sprachanalyse und erkennt hinsichtlich Lexik, Syntax und Stil eine typische, durch berndeutsche und französische Einflüsse gekennzeichnete Haller-Sprache, deren spezifischer Duktus durch die Stilelemente «Klarheit», «Kürze» und «Angemessenheit» verstärkt wird. Im zentralen Kap. 7 geht es um die theoretische Fundierung und textanalytische Veranschaulichung von Hallers kritischem Verfahren, oder genauer, der Sprachgestaltung seiner Wertung und den Modi seines Urteilens. Neben einer eigenen, deutlich wirkungsästhetisch ausgerichteten «Wertsprache» mit zeittypischen Kategorien (wie «rührend», «schön», «witzig», «erhaben», «wahr» etc.) wird eine im Grundsatz phänomenologische «Erkenntnismethode» ermittelt, die normative Werte zwar keineswegs verwirft, im Einzelfall aber eher deskriptiv verfährt. Kap. 8 gilt der geographisch breiten Streuung von Hallers Literaturkritik, insbesondere aber seinem eher negativen Verhältnis zur französischen und seinem eher positiven zur englischen Literatur, die er jeweils nicht nur per se, sondern auch als Folien einer sich emanzipierenden deutschen Literatur betrachtet. Kap. 9 vergleicht Hallers Rezensionen zur schönen Literatur mit denen seiner GGA-Kollegen Kästner, Michaelis und Heyne und konstatiert in Wertsprache, Argumentation und kritischem Ansatz jeweils individuelle Kritik-Stile. In Kap. 10 und 11 schliesslich wird aufgezeigt, dass – dem Gelehrsamkeits-Begriff der Zeit entsprechend – ein enger Bezug zwischen Hallers «wissenschaftlichen» und «literaturkritischen» Rezensionen besteht. Seine gelehrte Kritik folgt einem weitgehend einheitlichen Verfahrens- und Bewertungsmuster, das unabhängig vom jeweiligen Gegenstand Anwendung findet. Ein Anhang mit bibliographischen Angaben zu Hallers literaturkritischen Rezensionen sowie einigen tabellarischen Datenauswertungen und ein Literaturverzeichnis beschliessen den Band. Register fehlen bedauerlicherweise.

Profos hat eine facetten- und materialreiche Studie vorgelegt, die das Bild des Gross- Rezensenten Haller in dankenswerter Weise präzisiert, partienweise sogar neu konturiert. Dass sie hierbei – wie vorstehend zusammengefasst – Schwerpunkte setzt, ist nur legitim, bietet aber die Gefahr, einzelne Aspekte auszublenden. Zu denken etwa wäre an Blumenbachs oben zitiertes Diktum, Haller habe mit seinen Rezensionen weniger Dank als Unannehmlichkeiten erfahren. Auch wenn diese Aussage überspitzt sein mag, aus der Luft gegriffen ist sie nicht. Denn Hallers Kritik galt keineswegs als sakrosankt, sie wurde vielmehr durch Besprochene, die sich missverstanden oder ungerecht behandelt sahen, und durch Kritiker-Kollegen, die Flüchtigkeiten oder Sachmängel anmerkten, 2 durchaus auch in Frage gestellt. Und ein weiteres ist zu bedenken: Hallers Rezensionen, deren Bandbreite von der knappen Information bis zur ausgeführten Besprechung reicht, bilden nicht etwa einen monolithischen Block «gegründeter Kritik», sie sind vielmehr nach Umfang und Intensität, aber auch nach Interesse am und Vertrautheit mit dem Gegenstand sehr unterschiedlich. Hallers programmatisch formulierter Idealzustand einer «guten Rezension» wird durchaus nicht immer erreicht. Das gilt auch für das Kriterium der Urteilsbildung. Zwar betont Haller wiederholt, dass der «Nutzen» einer Rezension in ihrem Urteil liege, aber seine – von Profos herausgearbeitete – «Wertsprache » löst diesen Urteilsanspruch oft nur am Rande ein.

Ergänzend noch drei Verdeutlichungen bzw. Hinweise:
1) Hallers Programm einer «gegründeten Kritik» ist Teil der seit der Frühaufklärung geführten, breiten Debatte über die Modalitäten des Rezensierens. Er «schärft» einige der klassischen Aspekte und priorisiert – bezogen auf die GGA – Kriterien wie «Aktualität» und «Gedrängtheit», die für gelehrte Zeitungen unabdingbar sind – nicht aber für die konkurrierenden gelehrten Journale / Zeitschriften.
2) Die interne «topographische» Ordnung der GGA orientiert sich nicht am Erscheinungsort, wie Profos vermutet, sondern am Ort, von dem eine gelehrte Nachricht stammt. Diese Unterscheidung ist – zumindest hinsichtlich der bibliographischen Bestimmung der rezensierten Schriften – alles andere als unerheblich. So handelt es sich etwa bei dem unter dem Label «Prag» angekündigten «Baurenfreund in Niedersachsen» gerade nicht um eine Prager Publikation (S. 375), sondern um den 1. Jg. einer im norddeutschen Lemgo erschienenen Wochenschrift.
3) Guthkes wichtige Zusammenstellung der literaturkritischen Haller-GGA-Rezensionen wird im Anhang alphabetisch neu sortiert und mit Korrekturen und Ergänzungen versehen (S. 372 – 420). Drei bei Guthke übersehene Titel sind hinzugefügt, das Gros der Einträge aber bleibt so gut wie unverändert. Das ist – wie das oben genannte Beispiel «Baurenfreund» belegt – enttäuschend, da es dem heutigen Forschungsstand nicht gerecht wird und den Nutzer mit bibliographischen Problemen allein lässt, die längst gelöst sind.3

Insgesamt gesehen kommt Profos’ Monographie das grosse Verdienst zu, erheblich zur Wieder- und Neuentdeckung des Rezensenten Haller beizutragen. Insbesondere die Ergebnisse zur Sprache und zur Erkenntnismethode machen Grundzüge und Entwicklungen der Hallerschen Kritik deutlich, die die Forschung bisher nicht so klar herausgearbeitet hatte. Gleiches gilt für den Nachweis eines fächerübergreifenden, dabei aber individuellen kritischen Ansatzes, bei dem Hallers Affinität zu den Naturwissenschaften wie zur Dichtung offenbar wird. Nicht zuletzt durch die Analyse sprechender Beispielstexte verleiht Profos Hallers Rezensenten-Profil eine klare Kontur, die seine besondere Stellung innerhalb der zeitgenössischen Kritik hochgradig plausibel macht.

1 [Vorrede] zu: Römer, J.J. / Usteri, P.: Des Herrn von Hallers Tagebuch der medicinischen Litteratur der Jahre 1745 bis 1774. 2 Bde. Bern 1789 – 91, Bd. 1, Th. 2, VII – VIII.
2 Vgl. Näheres z.B. bei Schimpf, W,: Kästners Literaturkritik. Lichtenberg-Studien, Bd. 4. Göttingen 1990, 14 ff., 67 ff.
3 Vgl. etwa die bei den Nachschlagewerken (S. 448) aufgeführten Daten des IdRZ18 (http://adw.sub.uni-goettingen.de / idrz / pages / Main.jsf).

Zitierweise:
Thomas Habel: Rezension zu: Profos Frick, Claudia: Gelehrte Kritik. Albrecht von Hallers literarisch-wissenschaftliche Rezensionen in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen. Basel: Schwabe 2009. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 76 Nr. 2, 2014, S. 73-76.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 76 Nr. 2, 2014, S. 73-76.

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